Gerd ist verschwunden

Ich habe ihn mir vorgestellt, und jetzt wirft er mir meine Vorstellungen zurück wie Plunder; er braucht keine Geschichten mehr wie Kleider.

Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein

1. Teil

Peter

Gerd ist verschwunden.
Ich hatte bereits einige Wochen nichts von ihm gehört, was nicht außergewöhnlich war. Oft vergingen Monate, in denen wir uns nicht sahen oder wenigstens einmal telefonierten. Das tat unserem Gefühl, miteinander verbunden zu sein, keinen Abbruch. Bei einer Gelegenheit unterhielten wir uns über einen Ausspruch unserer Mutter, die gesagt hatte: »Die Familie ist der Ort, an dem du stets wohlgelitten bist.« Er lachte und meinte: »Die Familie ist der Ort, an dem ich wohl stets gelitten habe.«
Es waren drei Wochen vergangen, in denen er auf zwei Nachrichten, die ich auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen hatte, nicht geantwortet hatte, als das Telefon klingelte.
»Ja, hier ist Peter.«
»Stella.«
»Hallo, wie geht's dir? Wie geht's Gerd? Ich habe seit Wochen versucht, ihn zu erreichen, aber er meldet sich nicht.« Seit Wochen versucht, Gerd zu erreichen. Das habe ich wahrscheinlich mein ganzes Leben versucht. Nicht im Sinne einer Lebensaufgabe, aber schön wäre es doch gewesen, den eigenen Bruder zu verstehen.
»Gerd ist fort. Er ist vor einer Woche geschäftlich mit zwei Kollegen für ein paar Tage nach Hamburg geflogen und ist am zweiten Tag einfach abgereist.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Keine Ahnung. Zu Hause ist er wohl nicht. Auch seine Kollegen wissen nichts. Nachdem er nicht zum Frühstück gekommen war, haben sie an der Rezeption erfahren, daß er frühmorgens ausgecheckt hatte. Im Büro ist er seitdem jedenfalls nicht mehr gewesen. Ich mache mir Sorgen.«
»Das kann ich verstehen, aber es wird schon nichts passiert sein.«
»Hoffentlich. Du hast doch seinen Wohnungsschlüssel. Mir wollte er ihn ja nicht geben. Ich dachte, wir könnten mal in seiner Wohnung nachsehen.«

Zwei Stunden später trafen wir uns in einer Bar, wo Stella auf mich wartete, einen Häuserblock von Gerds Wohnung entfernt. Ich hatte sie immer gemocht; es freute mich, daß die Beziehung der beiden von Dauer war, jedenfalls im Vergleich zu seinen anderen Affären. Unterwegs hatte ich doch begonnen, mir Sorgen zu machen. Es paßte nicht zu Gerd, einfach zu verschwinden. Zwar hatte er keine Bindungen zu irgendwem oder irgend etwas, aber zugleich war er stets in seinen Lebensumständen gefangen. Wenn er nun ausbrach, mußte etwas Außergewöhnliches geschehen sein.
So bestellte ich erst gar nichts, und Stella trank nur rasch ihren Kaffee aus. Auf dem Weg zur Wohnung verschwanden meine Skrupel, ohne schlechtes Gewissen schloß ich die Tür auf.
»Hallo!?«
Es war das erste Mal, daß ich Gerds Wohnung betrat, seit er allein dort lebte. Als er vor zwei Jahren einzog war es noch eine Dreier-WG. Nach einem halben Jahr zog Gertrud aus; Gerd hatte mittlerweile beruflich Fuß gefaßt und konnte es sich leisten, das Zimmer zu übernehmen. Soweit ich weiß, hatte er zuerst ein Verhältnis mit Gertrud gehabt und war dann eine Weile mit Ruth zusammen, was wohl auch der Grund für Gertruds Umzug gewesen war. Ruth hatte vor ein paar Monaten ihr Examen gemacht und war nach Berlin gegangen. Gerd war nun alleiniger Mieter und hatte drei fast leere Zimmer, in einem stand ein Bett und ein Schrank, in einem ein Schreibtisch und ein Computer, im letzten ein Sofa, ein Fernseher und eine Stereoanlage. An den Wänden verteilten sich auf dem Fußboden Bücher, CDs und Videos. Auf dem Küchentisch stand eine Packung Cornflakes und benutztes Frühstücksgeschirr.
Wir gingen ins Arbeitszimmer. Der Anrufbeantworter zeigte eine eingegangene Nachricht an. Das erschien mir eigenartig, denn ich hatte fünf Tage zuvor angerufen, und auch Stella hatte versucht, ihn zu erreichen. Gerd mußte also nach seinem Verschwinden den Anrufbeantworter abgehört und die Nachrichten gelöscht haben, ohne es für nötig zu befinden, sich bei jemandem zu melden.
Ich sah Stella an und wußte, daß sie das gleiche dachte wie ich. Ohne zu zögern, drückte sie auf die Wiedergabetaste.
Es war Gerds Stimme.
»Was willst du hier?«

*

Eine berechtigte Frage in einer ganzen Reihe unbeantworteter Fragen.
Was befindet sich in der obersten Schreibtischschublade?
Wer ist die geheimnisvolle Frau, die Gerd in Hamburg kennengelernt hat?
Werden Stella und Peter sich näherkommen?
Wird er Gerd jemals erreichen?

*



  wird fortgesetzt...